Vom Erdboden verschluckt – was hat es auf sich mit Ghosting?

Immer mal wieder kommt es vor, dass Klientinnen und Klienten in meine Praxis kommen und von Beziehungen, aber auch von Freundschaften berichten, in denen es ganz plötzlich zu einem totalen Kontaktabbruch seitens des Gegenübers kam. Vollkommen ratlos bleiben sie zurück, unerklärlich erscheint das Verhalten der anderen Person, die im Sinne des Begriffs zum Geist oder Phantom mutiert. Mittlerweile gibt es auch den Begriff „Job Ghosting“, demnach tritt ein gewisser Prozentsatz von Mitarbeitern trotz eines positiv durchlaufenden Bewerbungsprozess seine Stelle ohne weitere Erklärung nicht an.

Ghosting – viele Fragen bleiben offen

Ghosting kann zu jedem Zeitpunkt eines Kontaktes entstehen, während der Anbahnungsphase, in der noch ausschließlich digital kommuniziert wird bis hin einem abrupten Abbruch nach einer jahrelangen Freundschaft. Tatsächlich stelle ich beim Schreiben dieses Artikels fest, dass ich selbst zweimal zum Ghosting Opfer wurde, in beiden Fällen von Freundinnen, die ich (unabhängig voneinander) schon sehr lange kannte – plötzlich verschwanden sie aus meinem Leben. Und ich merke, dass, auch wenn es in beiden Fällen fast ein Jahrzehnt zurückliegt, ich immer mal wieder an diese beiden Personen denken muss. Hätte ich etwas anders machen können? Wird es eines Tages doch noch ein Wiedersehen geben? Werde ich jemals eine Erklärung von der anderen Seite bekommen? Und ich frage mich auch, ob im umgekehrten Falle Personen, die mir einst nahestanden und die nicht mehr in meinem Leben sind, mein Verhalten ihnen gegenüber als Ghosting interpretieren.

Digitales Ghosting – noch nie war es so einfach, sie ich Luft aufzulösen

Auch wenn es Ghosting tatsächlich schon immer gab, verführen unsere modernen Medien umso mehr zu diesem Verhalten. Kontakte sind inflationär verfügbar und unverbindlicher geworden. Wenn mir Klientinnen und Klienten schildern, was sie auf Dating-Plattformen erleben, dann hat das oftmals die Qualität eines „Männer- oder Frauen-Supermarktes.“ Und wenn man sich noch nicht persönlich begegnet ist, ist die Gefahr, sich für sein Verhalten verantworten zu müssen faktisch nicht existent. Noch dazu leben viele Menschen stark in Vergleichen, im „competition mode“ im Sinne von „vielleicht gibt es doch noch etwas besseres da draußen.“ Meine Antwort hierauf ist klar: Solange man so denkt, wird man niemals ankommen, denn es wird immer jemanden geben, der attraktiver, wohlhabender, sportlicher, lustiger … ist, die Liste ließe sich unbegrenzt fortführen.

Woran kannst Du ein mögliches Ghosting vielleicht doch schon im Vorhinein erkennen?

  • Dein Gegenüber verhält sich zunehmend unverbindlicher oder signalisiert Dir gleich zu Beginn Eures Kennenlernens, dass er nicht an einer festen Beziehung interessiert ist. Prüfe, was Du tatsächlich möchtest. Wenn Du etwas Verbindliches suchst, dann spüre mal in Dich hinein, ob Dir dieser Kontakt wirklich guttut. So kannst Du Dich vor Verletzungen und Enttäuschungen schützen.
  • Im Nachhinein stellen manche Betroffene fest, dass sich das Kommunikationsverhalten der ghostenden Person bereits vor dem radikalen Abbruch verändert hat. Er/sie hat sich seltener gemeldet, sich weniger Mühe gegeben oder Dir kürzere Nachrichten geschrieben. Gleichzeitig konntest Du beobachten, dass er/sie permanent online war, Dir gegenüber aber signalisiert, „total im Stress“ zu sein. Treffen werden verschoben, finden seltener statt. Wieviel Interesse an Dir ist da wirklich vorhanden?
  • Dein Engagement ist größer als das Deines Gegenübers. Du kümmerst Dich viel mehr, machst Dir Gedanken. Überlege Dir, ob dass das richtige Beziehungsmodell für Dich sein kann, welche Wertschätzung Du Dir selbst geben willst und wie die Deines Gegenübers aussehen soll. Es ist wichtig, dass Du Deine Bedürfnisse formulieren kannst, vor Dir selbst und vor anderen.

Welche Gründe gibt es für Ghosting?

In der heutigen digitalen Zeit ist es leicht und bequem, aus dem Kontakt zu gehen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. In den meisten Fällen geht es um Konfliktvermeidung. Gründe für ein Ghosting sind:

  1. Manche Menschen können sich nicht gut abgrenzen. Wenn as Interesse auf der anderen Seite nicht groß genug ist, meiden sie notwendige klärende Gespräche und Konfrontationen. Dahinter liegt letztlich eine Selbstwertproblematik, verbunden mit dem Gebot, nicht „nein“ sagen zu dürfen.
  2. Vielleicht ist Dein Kontakt überfordert, weil Du sehr fordernd auftrittst und er/sie Deine Erwartungen nicht erfüllen kann. In diesem Falle gilt es zu überdenken, wie Du authentisch, aber nicht mit zu hohen Erwartungen auftreten kannst. Siehe hierzu auch meinen Artikel zu Love Bombing.
  3. Möglicherweise gibt es in dem „Beziehungs-Supermarkt“ da draußen noch andere Personen, die Dein Kontakt datet. Viele Menschen, die beziehungstechnisch digital unterwegs sind, tun das und trauen sich nicht mitzuteilen, dass sie möglicherweise bereits etwas Besseres gefunden haben. Hier geht es also um Scham und mangelnden Mut.
  4. Dein Kontakt ist von Dir begeistert, aber sieht sich selbst als Dir nicht ebenbürtig. Also verschwindet er/sie lieber, bevor er/sie sich mit seiner selbst empfundenen Minderwertigkeit zeigen muss.
  5. Manchmal spielen auch Veränderungen der Lebensumstände eine Rolle, Dies kann z.B. Stress, eine eigene Erkankung oder die eines Angehörigen sowie ein Jobverlust sein. Der Rückzug hat also weniger mit Dir als Person zu tun, als mit einer persönlichen Belastung Deines Gegenübers.

Wie kannst Du mit Ghosting umgehen, ohne dass Dein Selbstwert leidet?

Zunächst ist es wichtig, Dir immer wieder klarzumachen, dass das Verhalten Deines Gegenübers nicht zwangsläufig mit Deiner Persönlichkeit zu tun hat, erst recht nicht, wenn Ihr Euch noch gar nicht richtig kennt. Das hilft Dir, Dich weniger verletzt zu fühlen, denn es geht letztlich nicht um Dich als Person. Und so schwer es auch ist, mach Dir klar, dass Du wahrscheinlich damit leben musst, nie eine zufriedenstellende Erklärung für den Kontaktabbruch zu bekommen. Auch die lapidare Erklärung „es passt nicht“ ist letztlich unbefriedigend, weil sich der/die Andere nicht die Mühe macht zu erklären, warum es nicht passt. Natürlich kannst Du nochmal nachhaken und eine Erklärung verlangen, aber mach Dir da nicht zu viel Hoffnung.

Ghosting – Übungen zum Loslassen

Eine weitere Option ist es, einen Brief an die betreffende Person zu schreiben, aber gar nicht mit der Absicht, ihn dieser zukommen zu lassen sondern um für Dich einen Abschluss zu finden. Den Brief kannst Du anschließend nochmal lesen, ihn dann entweder verbrennen oder in kleine Schnipsel zerreißen und ihn dann z.B. in einen Fluss streuen und dabei zusehen, wie die Schnipsel mit der Strömung davontreiben. Das mag sich etwas esoterisch anhören, in der Therapie hat sich dieses sog. therapeutische Schreiben tatsächlich als sehr wirksam erwiesen (denn manchmal möchte man sich z.B. auch mit Menschen auseinandersetzen, die gar nicht mehr leben oder aber aus anderen Gründen nicht erreichbar sind). Mach Dir in diesem Zusammenhang noch einmal klar, was Du ruhig von anderen Menschen erwarten darfst und wie Du einen Kontakt führen möchtest, damit Deine Bedürfnisse befriedigt werden können. Das ist nicht vermessen, sondern Selbstfürsorge. Dann lösche Deinen Chatverlauf, blockiere die Person auf den sozialen Medien, entferne Fotos, damit Du nicht immer wieder erinnert wirst. Je früher Du das tust, umso besser, denn permanente Selbstzweifel (was habe ich falsch gemacht) und Misstrauen wirken sich nicht gut auf zukünftige Beziehungen aus.

P.S.: Etwas Unglaubliches ist passiert, eine der beiden Freundinnen hat sich tatsächlich gemeldet. Nun bin ich bereits neugierig auf das nächste Treffen.