Interview mit der dpa zum Empty-Nest-Syndrom

Eltern allein zu Haus: Den Auszug der Kinder meistern

Von Julia Kirchner, dpa
Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH, Hamburg, www.dpa.de.

Ziehen Kinder aus, kann das bei Eltern tiefe Traurigkeit auslösen. Wissenschaftler beschreiben das als Empty-Nest-Syndrom. Helfen kann in dieser Phase, wenn Eltern wieder den Blick auf sich selbst richten – und die Zeit ohne Kinder für sich nutzen.

 

Berlin/Köln (dpa/tmn) – Es gibt Phasen, da fiebern Eltern auf diesen Moment hin: Wenn das Kind doch schon groß wäre. Selbstständig. Sich selbst beschäftigen würde, alleine unterwegs wäre. Man mehr Zeit für sich oder gemeinsam mit dem Partner hätte. Und irgendwann wird es Realität: Das Studium oder die Ausbildung fängt an, und das Kind zieht weg in eine andere Stadt. Mit diesem Schritt werden viele Eltern aber plötzlich mit widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert. Statt Erleichterung und Freiheitsgefühl empfinden sie Trauer, Sehnsucht und Verlustängste.

In der Fachsprache heißt die Trauer über das Flüggewerden der Kinder Empty-Nest-Syndrom, der Schmerz über das verlassene Nest. «Wenn die Kinder ausziehen, ist das ein bisschen wie in Rente geschickt werden», erklärt Bettina Teubert aus Berlin. Die ausgebildete Familientherapeutin hat vor ein paar Jahren eine Selbsthilfegruppe für Frauen gegründet, die der Auszug ihrer Kinder hart getroffen hat. Teubert ging es ähnlich, als ihre Tochter vor sieben Jahren auszog, etwas später dann auch ihr Sohn. «Ich wollte das Thema aus der Tabuzone holen und zeigen: Es ist normal, ihr tickt nicht verkehrt.»

 

Teubert überraschte vor allem das Gefühlschaos: Einerseits war sie stolz auf ihre mutigen Kinder, die sich ihr eigenes Leben aufbauten. Andererseits war sie aufgewühlt. Ihr fehlte es, mit ihren Kindern über dieses oder jenes zu sprechen, Dinge zu unternehmen. Sie fragte sich, was sie mit ihrer vielen freien Zeit anstellen sollte. Außerdem wartete am Ende die unausweichliche Einsicht auf sie: Wenn die Kinder ausziehen, wird man alt. Wenn vom Empty-Nest-Syndrom die Rede ist, geht es fast immer um Mütter. Doch was ist mit den Vätern? «Bei Männern kommt dieser Einschnitt meist später, nach dem ersten Tag als Rentner», fasst Diplom-Psychologin Felicitas Heyne das Phänomen zusammen. Tatsächlich ist es oft so, dass die heute 50- bis 60-jährigen Frauen nach der Geburt zu Hause blieben, im Job zurücksteckten und sich auf die Familie konzentrierten – während die Männer ganz normal Vollzeit arbeiten gingen.

«Je mehr Raum mein Kind für mich einnimmt, umso größer ist später der Bruch», sagt Bettina Fromm, ebenfalls Psychologin. Naturgemäß trifft es Mütter härter, wenn sie mehr Zeit mit den Kindern verbracht haben. Außerdem beziehen viele Frauen ihren Selbstwert aus der Mutterrolle.

Doch auch für Paare bedeutet ein kinderloses Haus Veränderungen. Wo Frau und Mann lange Zeit eine Elternallianz bildeten, sind sie auf einmal wieder aufeinander zurückgeworfen, oder wie Teubert sagt: «Man ist nur wieder Paar.» Auch hier gilt es also, sich neu zu sortieren.

Damit das gelingt, sind mehrere Schritte nötig: Als Erstes geht es dem ehemaligen Kinderzimmer an den Kragen. «Ich empfehle sehr, das neu zu gestalten», sagt Fromm. Und auch Teubert machte die Erfahrung: «Diesen Raum zu erobern, hat etwas Symbolisches.» Denn es macht einem klar: Ein Lebensabschnitt geht zu Ende, und ich
mache Platz für etwas Neues.

Dann wird es Zeit, einerseits Bilanz zu ziehen, andererseits nach vorne zu gucken und zu überlegen: Wie gestalte ich mein eigenes Leben? Wer bin ich noch, wenn ich als Mutter nicht mehr gebraucht werde? Für viele kann das in der Tat zu einer kleinen Identitätskrise werden. Heyne rät, in die Zeit vor den Kindern zurückzuschauen: Was hat einem da Spaß gemacht, bei was hat man sich gut gefühlt? Für den einen bedeutet das, sich endlich auf den Jakobsweg zu begeben, andere fangen eine neue Sportart an. «Im besten Fall macht es richtig Spaß, und ist nicht nur eine Beschäftigungstherapie», sagt Heyne.

Natürlich kann es auch helfen, über die eigenen Gefühle zu sprechen – mit anderen, die vielleicht gerade Ähnliches durchmachen oder schon hinter sich haben. Professionelle Hilfe ist laut Fromm auf jeden Fall dann angezeigt, wenn die Trauer den Alltag überschattet, zu viel Raum einnimmt und das Gefühl aufkommt: «Das bleibt jetzt so.»
In vielen Fällen weicht die Trauer nach einer Weile anderen Dingen, etwa Stolz. «Die Kinder großgezogen und begleitet zu haben, ist doch eine Leistung», sagt Heyne. Außerdem sind die meisten Kinder ja nicht aus der Welt, und mit etwas Planung kann man sich verabreden. Das sieht auch Teubert so: «Das Schöne ist, man hat zu seinen
Kindern jetzt eine Partnerschaft auf Augenhöhe.» Über das Smartphone könne man außerdem unkompliziert Kontakt halten. «Und es ist nicht so aufdringlich wie ein Anruf.»

Felicitas Heyne hat noch einen Tipp für Elternpaare, die sich nach dem Auszug der Kinder nicht beim Scheidungsanwalt treffen wollen. Um ihn in die Praxis umzusetzen, müssen Pärchen aber lange Zeit vor dem Ausziehen damit anfangen. «Paare müssen sich Freiräume schaffen und ohne die Kinder weggehen – das geht auch schon mit einem sechs Monate alten Baby.» Das sei bei fast allen möglich, wenn Verwandte oder der
Babysitter das Kind für einen Abend übernehmen. Und es stärkt die Verbindung von Mann und Frau – ohne dass sie die Vater- oder Mutterrolle einnehmen.

Bettina Teubert hat sich heute gut mit ihrer Situation arrangiert. Sie genießt es, Dinge jetzt ganz konsequent und ohne Rücksicht auf andere machen zu können. Zum Beispiel ihre Yogamatte auszubreiten. Auch in Gesprächen mit anderen Empty-Nest-Müttern ermuntert sie immer dazu, sich sein eigenes Ding zu suchen. «Das beste Zeichen, dass die Trauer überstanden ist, ist, wenn das Kind anruft und die Mutter sagen kann: „Da habe ich leider kein Zeit.“»