Vergebung: Wie Du Deine Wunden heilen kannst

Kann man jemandem verzeihen, der einen betrogen hat? Oder gar einem Mörder vergeben? Vergebung ist ein großes Wort, das in der christlichen Tradition mit Sünden und Verbrechen in Verbindung gebracht wird. Heute gibt es im Gegensatz zu früheren kirchlichen Traditionen und Regularien nicht unbedingt ein richtig oder falsch im Umgang mit verletzenden Verhaltensweisen unseres Gegenübers. Vielmehr gilt es abzuwägen, ob wir bereit sind, zu vergeben bzw. im Umkehrschluss, wenn wir uns dagegen entscheiden, ob wir mit den Konsequenzen eines meist endgültigen Bruchs in Frieden leben können.

Getäuscht und verraten: Das Gefühl, benutzt worden zu sein

Häufig geht das verletzende Verhalten bei dem, der es erleidet mit dem Gefühl benutzt oder verraten zu werden einher. Eine Klientin von mir war lange Geliebte eines Mannes, der ihr immer wieder Hoffnungen machte, sich von seiner Frau zu trennen. Letztlich tat er es nicht. Meine Klientin fühlte sich getäuscht und verraten. In tiefer Trauer über den Verlust der Affäre kam sie zu mir.

Junge Menschen suchen mich auf, deren Eltern (meist sind es die Väter) sie früh verlassen haben. Irgendwann wollen sie wissen, was sie mit dem Vater verbindet, was sie von ihm haben, warum er ging und sich nicht für sie interessierte. Wie kann so eine Begegnung verlaufen und was können die Kinder (noch) erwarten?

Das Recht auf verletzte Gefühle

Zunächst hat jeder ein Recht darauf, sich verletzt zu fühlen, Wut, Trauer und Kränkungen zu spüren. Denn ohne das Durchleben dieser schmerzlichen Gefühle ist keine Vergebung möglich. Und Vergeben bedeutet nicht, das, was jemand anders einem angetan hat zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen. Vergeben zu können bedeutet vielmehr, den Mut und den Willen zu haben, ein persönliches Risiko einzugehen, nämlich die Gefahr, ein weiteres Mal enttäuscht zu werden. Es sei denn, man übt sich wie meine Klientin in Vergebung, ohne die andere Person damit zu konfrontieren, denn auch das ist möglich.

Der Ursprung verletzter Gefühle

Der US-Psychologe Robert Enright, der auch als „Vater der Vergebungsforschung“ bezeichnet wird hat einen sog. Pfad des Vergebens entwickelt. Dieser verdeutlicht, dass unter der Verletzung meist ganz alte Geschichten liegen, denn oft ist es nicht das konkrete Ereignis, wie etwa von einer Freundin bei der Einladung zum Geburtstag übersehen worden zu sein. Sondern z.B. das nicht gesehen werden, was sich schon als Kindheit in der Familie als Muster herausgebildet hatte.

Der Pfad der Vergebung besteht aus vier Schritten

Im ersten Schritt ist es notwendig, die Gefühle zu akzeptieren, nur so kann man sie bearbeiten. Dabei gilt es auch, Trauer, Wut, Hass oder andere emotionale Wunden noch einmal zu durchleben. Denn um sie im nächsten Schritt tatsächlich loslassen zu können, muss man sie wahrgenommen haben und im Hinblick auf mögliche alte Themen, die darunter liegen und zu Triggern werden, verstehen. Im zweiten Schritt geht es darum, sich aktiv zu entschließen, sich aus diesen alten wie aktuellen Verstrickungen zu befreien.

Die Umsetzung: Pro- und Contra-Liste erstellen

Dazu kann eine Pro- und Contra-Liste helfen, die verdeutlicht, was die Vor- und was die Nachteile des Vergebens in der konkreten Angelegenheit sind. Der dritte Schritt erfordert die Entwicklung von Verständnis für den Verursacher ohne diesen zu entschuldigen oder sein Verhalten zu rechtfertigen. Es geht vielmehr um einen Perspektivenwechsel. Eben im Fall der Affäre meiner Klientin um die Gründe, die den Mann dazu bewogen haben, bei seiner Ehefrau zu bleiben. Dabei spielten sein deutlich höheres Alter verbunden mit beginnender Gebrechlichkeit und damit seine Sorge, ihr in ihrer Lebendigkeit nicht gerecht werden zu können möglicherweise eine Rolle. Wahrscheinlich mit der Konsequenz, in der zwar langweiligen, aber gewohnten Sicherheit zu verharren. Denn Aufbruch hätte Veränderung ohne Sicherheit bedeutet.

Der Perspektivenwechsel stärkt die eigene Haltung

Der letzte Schritt beinhaltet das aktive Akzeptieren der Unumkehrbarkeit des Geschehenen, also im Fall meiner Klientin die Aufgabe der Hoffnung auf eine Wiederaufnahme der Affäre bzw. der Chance, diesen Mann ganz für sich gewinnen zu können. Dabei entwickelten sich ihm gegenüber auch kritische Gedanken wie den Zweifel, ihm ihn diesem Falle überhaupt jemals wieder vertrauen zu können. Vergebung ist vollendet, wenn starke Gefühle nicht nur wie Trauer und Wut, sondern auch wie Rache keine Relevanz mehr haben.

 

Vergebung macht psychisch stabiler

Studien verweisen auf die heilende und stärkende Kraft der Vergebung. Dementsprechend sind Menschen, die vergeben können im Hinblick auf ihre psychische Gesundheit stabiler und insgesamt zufriedener in ihrem Leben. Übrigens können ältere Menschen eher verzeihen. Das mag zum einen daran liegen, dass sie um die Wichtigkeit sozialer Kontakte für ihren Seelenfrieden wissen. Zum anderen wächst mit dem Alter vielleicht auch die Gelassenheit sowie die Erfahrung, dass es sich selten lohnt, stur zu bleiben oder zu kämpfen, weil sich keine innere Ruhe einstellen kann.