Die Uni als Krankmacher? Immer mehr Studenten leiden an Depressionen

Der aktuell erschienene BARMER-Arztreport 2018 weist alarmierende Ergebnisse auf: Jeder sechste Studierende leidet unter Depressionen, Angststörungen, Panikattacken oder einer anderen psychischen Erkrankung.

Als Ursachen für die Belastungen werden in der Studie Leistungs- und Zeitdruck sowie finanzielle Existenz- und Zukunftssorgen genannt. Und die Tendenz ist steigend: Demnach prognostiziert die WHO (Weltgesundheitsorganisation), dass bis zum Jahr 2020 Depressionen die zweithäufigste Volkskrankheit sein werden.

Ursachen für die Zunahme psychischer Erkrankungen bei jungen Erwachsenen und Studierenden

Erzählen Sie ihren Kindern auch, dass Ihre Mutter Sie in Ihrer Kindheit vom Spielen reinholte, wenn es dunkel wurde? Das ist für Kinder und Jugendliche von heute kaum mehr vorstellbar. Zuletzt hatte die mittlerweile teilweise wieder revidierte Einführung von G8 dazu beigetragen, dass das in acht statt vormals in neun Jahren zu bewältigende Pensum bis zum Abitur der „Abschaffung der Kindheit“ Vorschub leistet. Für Sport und Vereinsaktivitäten oder einfach nur zum Spielen bleiben bei dem extrem langen Unterricht kaum mehr Zeit. Vielmehr gestaltet sich der Alltag vieler Kinder heute in enger Taktung zwischen Chinesisch-AG und dem Bulimie-Lernen für die nächste Klausur.

Anpassung ist gefragt – nicht Individualität und Identitätsfindung

Das hohe Lernpensum lässt wenig Raum für kreative und regenerative Tätigkeiten. Was oft übersehen wird ist, dass diese elementar notwendig für die Ich-Findung sind. Bei einer Sportart, die Jugendliche für sich entdecken, können sie Freude am sich Ausprobieren, an Leistung, Teamgeist und Motivation körperlich und mental erfahren und später auf andere Bereiche wie beispielsweise Leistungsdruck oder Prüfungssituationen übertragen. Gleichzeitig lernen sie damit Ausgleichsaktivitäten
kennen, können diese in Stresssituationen instrumentell einsetzen und sich somit entlasten. Dasselbe gilt für kreative Hobbys oder fürs Spielen ohne Druck und ohne Ziel, denn auch dort tun sich Erfahrungsräume auf, in denen sich Kinder und Jugendliche ausprobieren und finden können. Das nicht mehr oder nur noch eingeschränkte Erlernen dieser Fertigkeiten hat Auswirkungen auf die Belastbarkeit im Studium, genauso wie später beim Umgang mit Anforderungen im Beruf.

Wie kann man Depressionen im Studium erklären?

Vor dem Hintergrund systemischer Therapieansätze können Depressionen und andere psychische Erkrankungen quasi als Lösungsversuch, nämlich als mentaler Ausstieg aus der Überlastung verstanden werden. Zunächst versuchen die Studierenden, dem Leistungsdruck gerecht zu werden, geraten dabei aber häufig in eine Überforderungssituation, auch weil sie nicht wissen, wie sie außer mit Chillen einen Ausgleich schaffen können. Stattdessen steigt das Risikoverhalten wie kurzzeitig entspannender Alkohol- und Drogenkonsum oder die Einnahme von Psychopharmaka zur Leistungssteigerung und belastet den Organismus zusätzlich. Auch gesunde Ernährung wird häufig vernachlässigt. Anstatt in Kommunikation mit Freunden oder den Eltern zu gehen, versuchen es viele weiter alleine, etwa weil sie die Eltern, die das teure Studium an der Privat-Uni finanzieren, nicht enttäuschen möchten. Die Eltern sind oftmals gleichermaßen überfordert, denn sie wünschen sich, dass ihre Kinder mithalten können im internationalen Wettbewerb und sehen keine andere Chance, als den Nachwuchs zusätzlich zu pushen und erhöhen den Druck damit zusätzlich.

Psychische Erkrankungen in der Uni-Zeit: Wen trifft es?

In meiner Praxis berate ich viele junge Erwachsene im Studium oder im ersten Job. Oft kommen sie zu mir mit den Worten: „Ich weiß nicht, wer ich bin.“ Sie können sich nicht mehr spüren, sind zwischen Erfüllung von äußeren Anforderungen und inneren Ansprüchen einerseits und Erschöpfung bis hin zur Leistungsverweigerung hin und her gerissen. Was fehlt, ist die Balance. Deutlich wird: Je kleiner das soziale Netz, je geringer die Fähigkeit, sich zu entspannen und je weniger ausgeprägt das Selbstbewusstsein, desto eher treten psychische Erkrankungen auf, desto größer sind die Versagensängste. Das Selbstbewusstsein wiederum speist sich aus Erfahrungen, etwas zu können, jemand zu sein, sich selbst zu kennen. Idealerweise hat die Familie im Laufe der Entwicklung verständnisvoll und unterstützend agiert. Wenn aber die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern nicht funktioniert, etwa weil die Eltern selbst gestresst sind oder weil sie wenig Zeit haben, können junge Erwachsene ihre eigenen Qualitäten und Bedürfnisse nicht spüren. Der Wunsch nach Anerkennung, insbesondere bei absenten Eltern führt teilweise zu einem selbst auferlegten hohen Leistungsstreben. Die Betroffenen wollen ihr Studium schnell bewältigen, ein Prädikatsexamen machen oder haben auch schon eine Klasse übersprungen in der Schule. Dahinter steckt letztlich der Wunsch nach Anerkennung, nach dem Motto: „Nehmt mich doch endlich wahr und nehmt mich mal in den Arm.“ Über einen kurzen Zeitraum ist eine erhöhte Leistungssteigerung möglich, über längere Zeitspannen stellt sich Erschöpfung ein. Durch die hohe Verausgabung verlieren sie den Kontakt zu sich selbst und geraten schneller in Depressionen oder Angstzustände.

Panikattacken und Depressionen: Wie komme ich raus?

In der Studie der BARMER (BARMER-Arztreport 2018) heisst es, dass man „nicht bei jeder schlechten Phase“ gleich eine Psychotherapie benötige. Stattdessen werden Online-Angebote wie für Versicherte kostenfreie Internet-basierte Trainings zur Bewältigung von Prüfungsangst, Sorgen, Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen oder allgemein zum Stressmanagement angeboten. Das ist aus Sicht der Kassen verständlich, denn zum einen werden dadurch Kosten eingespart, zum anderen betragen die Wartezeiten für ambulante Psychotherapieplätze mal gerne zwischen sechs und zwölf Monaten. Das Erlernen von effektiven Techniken zur Bewältigung des Unistoffs ist mit Sicherheit hilfreich und notwendig. Gleichzeitig steckt immer eine persönliche Lebensgeschichte hinter der Selbstüberlastung bis hin zu einer diagnostizierten Erkrankung, durch die die betroffenen Studierenden aus der Balance geraten. Die Wiederherstellung des Gleichgewichtes zeigt sich in der Fähigkeit, sich persönlich angemessene Herausforderungen zu suchen, sich gegen Überlastung abzugrenzen, für genügend Ausgleich zur Regeneration zu sorgen und ein funktionierendes soziales Netz aufzubauen. Diese Schritte erlernt man in einem Coaching oder in einer ambulanten Psychotherapie.